Beate

Es ist schon komisch. Wir gehen durch den Tag, erleben Schönes, Trauriges und Ernstes und machen davon unsere Stimmung abhängig. So kann es sein, dass selbst Kleinigkeiten, die kaum der Rede wert sind, unsere Stimmung trüben. Und das, obwohl es uns eigentlich gut geht.

Vor ein paar Jahren, lernte ich einen Menschen kennen. Beate. Ich hatte, bevor ich sie traf von der Krankheit gehört, die sie hatte. Einer Muskelschwundkrankheit, die begann, als sie 15 Jahre alt war. Es fing bei ihr damit an, dass die Rückenmuskulatur erschlaffte und sie keine gerade Haltung mehr einnehmen konnte. Es wurde stärker und sie ging zusehends gebückt. Dann, etwa als sie ihr 18. Lebensjahr erreicht hatte, konnte sie sich nicht mehr auf den Beinen halten und musste in einen Rollstuhl verlegt werden. Aber die Krankheit stoppte auch hier nicht, zog sich weiter durch ihr Leben. Beate wurde immer schwächer, wurde bettlägerig und musste irgendwann künstlich beatmet werden. Durch den stetigen Abbau ihrer Muskeln nahm sie immer mehr ab. Bestand nur noch aus Haut und Knochen.

In diesem Moment sollte ich auf diesen Menschen treffen. Einen Menschen, der körperlich absolut am Ende ist, dem es einfach nur schlecht gehen kann. Ich habe lange überlegt, ob ich mich darauf einlassen soll, ob ich diesen Menschen überhaupt sehen möchte - und wenn ich es mache, wie ich damit umgehe. Ich sollte mich auf das Schlimmste einstellen, wurde mir gesagt - doch kann ich im Nachhinein sagen, dass ich das niemals konnte.

Ich habe mir einen abgemagerten Menschen vorgestellt. Einen Menschen, dem es so schlecht geht, dass er sich eventuell nichts sehnlicher wünscht, als "das Alles" zu Ende zu bringen um endlich aus dieser Welt treten zu können. Ich habe an einen Menschen gedacht, der ein Leben führt und dabei auf so vieles verzichten musste. Ich habe mir einen Mensch vorgestellt, der niemals geliebt worden ist, niemals den Kuss eines Verliebten erhalten hat, geschweige denn mehr. Und ich habe an mich gedacht, wie ich denken, fühlen und vielleicht auch handeln würde, wenn ich in Beates Situation gewesen wäre. Letztendlich kann ich es nicht sagen. Was ich aber sagen kann, war das, was mir die Menschen im Vorfeld sagten: Ich hätte mich auf das Schlimmste einstellen sollen.

Als ich das Zimmer betrat, mich unsicher in das Zimmer schob, da war ich geschockt. Beate, dieser Mensch, dem es so schlecht ging - strahlte mich an. Sie lächelte aufgrund des Besuches, aufgrund der Nähe die ihr gezeigt wird und sie freute sich des Lebens. In diesem Moment fühlte ich mich wie taub. Alles, einfach alles schien aus meinem Bewusstsein zu drängen. Das Gefühl aber, was blieb war: Beate, dieser so von einer Krankheit gebeutelter Mensch - strahlt mehr Lebensfreude, mehr Begeisterung für das Leben und mehr Zuversicht aus, als ich es je bei einem Menschen gesehen habe, als ich es selbst erlebt habe.

Keine zwei Jahre später ist Beate im Alter von 36 Jahren gestorben. Sie schlief ruhig in der Nacht ein.

Ich denke immer mal wieder an Beate zurück. Habe sie und diesen Blick, den sie mir geschenkt hat, nicht vergessen. Und ich werde ihn nie vergessen. Sie hat mir damit etwas gegeben, was mir vielleicht keine andere Situation, kein anderer Mensch hätte geben können. Die Ruhe, die Kraft und die Dankbarkeit, die ich aus dem Leben ziehe und die ich versuche, auch anderen Menschen mitzugeben. Selbst wenn es nur zu kleinen Teilen ist.

Das Leben, sage ich mir, spielt manchmal seltsame Spiele. Es kommt zu tragischen Unfällen, zu Schicksalsschlägen, die sich niemand wünscht und die man auch keinem anderen wünscht. Aber vielleicht können diese Dinge, die immer wieder auftreten, auch etwas mitgeben. Vielleicht etwas, wie mir - den Gedanken daran, das Leben mit all den Höhen und Tiefen, wert zu schätzen und sich des Lebens zu freuen.