Der Brief (die Antwort)

Mein Liebling,

ganz oft sitze ich hier in der Küche und lese deinen Brief. Ich lese ihn häufig und erinnere mich an dass, was du in deinem Brief geschrieben hast. An unser erstes Treffen im Cafe - aber vor allem an unser gemeinsames Leben. Und was haben wir nicht alles erlebt? Die Geburt unser beiden Kinder, den Bau unseres Hauses, aber auch Tragisches, wie den Tod unserer Eltern. Wir haben viel erlebt, Gutes wie Schlechtes, aber ich bin froh, dass ich diesen Weg mit dir an meiner Seite gehen konnte. Du bist und warst für mich immer ein ganz besonderer Mann. Deine Selbstsicherheit, deine Offenheit, deine Güte und die Feinfühligkeit, mit der du andere Menschen bedacht hast; das alles zu sehen war für mich immer etwas ganz Besonderes. Ebenso, wie deine leuchtenden Augen und dein wundervolles Lächeln.

Ich weiß aber auch, dass nicht immer alles gut war. Wir hatten Streit, wie andere Paare auch. Unstimmigkeiten und Meinungsverschiedenheiten. Wir hatten Krisen und standen manchmal ganz nah davor, nicht mehr zu wissen, wie und ob es überhaupt weitergeht. Wir hatten Sorgen, um unsere Eltern, unsere Kinder und darüber, wie wir manches, was wir uns aufgebaut haben, auch halten können. Ich weiß, dass die Kosten für das Haus uns sehr drückten und ich weiß, dass du Abends oftmals, wenn du das Haus verlassen hast und mir sagtest, dass du ein wenig Spazieren gehst, du oftmals noch für zwei, drei Stunden arbeiten warst. Es tat mir damals sehr weh, weil ich immer dachte, dass du kein Vertrauen zu mir hast. Heute aber weiß ich, dass du nur versuchtest  Sorgen von mir abzuhalten.

Ich habe lange überlegt, was ich dir in diesem Brief schreiben soll. Ich hatte ja auch lange Zeit. Schon drei Jahre ist es her, dass du mir deinen Brief gegeben hast. Und oft hatte ich ihn gelesen und mir vorgestellt, wie mein Brief für dich sein würde. Ich hatte mir Sätze formuliert, Wörter gesucht und mehrere Versuche gestartet den Brief zu schreiben. Nie war er so, wie ich es mir vorstellte. Nie war er so, dass ich ihn dir übergeben wollte.

Wenn ich aber nun meine bisherigen Zeilen lese, die ich zu Papier gebracht habe, dann bin ich enttäuscht. Das, was ich schreibe, kommt dir nicht gleich. Es trifft dich nicht, weil ich nicht weiß, welche Worte die richtigen sind. Und weil ich nicht weiß, ob es für dich und unser gemeinsames Leben überhaupt die passenden Worte gibt. Dennoch werde ich dir diesen Brief heute geben. Ich gebe ihn dir, weil ich nicht noch länger damit warten möchte - ich gebe ihn dir, weil ich dir heute trotz der Einfachheit dieses Briefes, eine Besonderheit schenken möchte.

Heute werde ich dich besuchen, so wie ich es jeden Tag mache. Ich werde dir meinen Brief mitbringen und ihn dir vorlesen. Dann werde ich unsere Enkelin besuchen, die heute Geburtstag hat und ich bin sicher, wir werden auch dort einiges Lustiges, was wir mit dir erlebt haben, noch einmal aufleben lassen. Morgen bin ich dann wieder bei dir und werde dir berichten: Wie es war, welche Worte unsere Enkelin neu gelernt hat und alles, was mir morgen noch einfällt und was ich nicht vergesse - was in letzter Zeit leider auch immer mehr wird.

Manchmal fällt es mir schon wirklich schwer, mich zu erinnern. Kleinigkeiten vergesse ich. Habe ich die Tür abgeschlossen? Ist das Dachfenster zu? Ich muss dann manche Dinge noch einmal kontrollieren, manchen Gang noch einmal machen. Ich merke auch, dass ich in letzter Zeit sehr schwach geworden bin. Wie sagtest du in deinem Brief vor drei Jahren nicht schon: "Wir sind alt geworden". Du hattest Recht und ich glaube, dass ich auch nicht mehr so viel Zeit auf dieser Welt habe. Aber auch das gehört zum Leben dazu. Ich lebe mein Leben sehr glücklich, sehr zufrieden - und zum Teil freue ich mich auch, weil ich weiß, dass ich dann wieder bei dir bin.

Hier ende ich jetzt, ich denke aber jeden Tag, immer wieder aufs neue an dich,

dein Engel.