Mehr als ein Augenblick

Ein harter Tag im Büro neigt sich dem Ende zu. Ein Tag, der Stress brachte, aufgebrachte Kunden, die es zu besänftigen galt, eilige Verträge, die rasch unterschrieben und weitergeleitet werden mussten und scheinbar endlose Anrufe und Mails, die beantwortet werden wollten. Jetzt, auf dem Weg mit der Straßenbahn zurück nach Hause spürte ich die Müdigkeit, die an mir zerrte. Ein wenig Erschöpfung mischte sich in den Wunsch nach Entspannung und Ruhe. Vielleicht noch ein Bad, etwas leckeres zu essen. Heute wird es kein langer Abend.

In meinen Gedanken versunken streifte mein Blick durch das Abteil, in dem ich saß. Sah weitere Menschen, die auf dem Rückweg der Arbeit waren, zwei kleine Jungs, die in einer Ecke verdrückt saßen und miteinander tuschelten, eine junge Frau.

Mein Blick blieb an ihr hängen. Ich musterte sie. Und sie schaffte es leicht, meine Gedanken abschweifen zu lassen. Sie stand nah bei der Tür und wartete dort. Wahrscheinlich endet ihre Fahrt bald, vermutete ich und schaute sie weiter an.

Sie trug einen dunklen Stoffmantel, der sie vor dem kalten Wind des Tages schützen sollte, darüber lugte ein beiger Wollschal heraus, auf dem leicht gewellt ihre Haare lagen. Sie hatte dunkelblondes Haar, durchzogen von leicht helleren Strähnen. Als mein Blick an ihr tiefer herab glitt, sah ich eine schwarze Stoffhose, an ihren Füßen ansehnliche, schwarze Stiefeletten.

Es war ein schöner Anblick - und auch wenn ich die Frau nur von hinten sah, da sie mir den Rücken zudrehte, wusste ich, dass sie für mein Empfinden äußerst attraktiv sein musste.

Bei diesem Gedanken blickte ich auf ihre Hand, mit der sie sich an einer Stange in der Bahn festhielt. Ich sah eine kleine, sehr zarte Hand und schlanke, fast gebrechlich aussehende Finger. An einem ihrer Finger sah ich einen Ring - und auch wenn ich nicht wusste ob der Ring nur als Schmuck galt oder als Zeichen eines Partners, so hätte mich letzteres nicht gewundert.

Ein Stück ging die Fahrt für mich noch weiter. Ich schaute sie weiter an, ließ mich weiter von ihrer Ausstrahlung fesseln und rauschte so, in der S-Bahn sitzend, durch die Nacht.

Zwei Haltestellen vor meiner stieg sie aus. Sie stieg die zwei Stufen, die sie aus der Bahn führten hinab und schritt am Fenster vorbei. Schaute noch einmal kurz herein...und war verschwunden.

Hatte sie mich angesehen? Hatte sie gelächelt?

Es schien mir so, doch war ich nicht sicher. Ich wünschte es mir. Und allein der Gedanke erwärmte mich. Dann stieg auch ich aus. Ging die letzten Meter nach Hause und gönnte mir einen ruhigen Abend. Ich dachte an dem Abend noch oft an die Frau zurück. Wenn auch nicht bewusst, so wusste ich doch, dass ich morgen wieder den gleichen Zug nach Hause nehmen würde.