Zum Ende

Ein ganzes Leben lang habe ich gelebt. Mein eigenes leben lang. Und ich hatte das Glück, wirklich viel erleben zu dürfen und viel von dieser Welt sehen zu können. Viel Schönes war dabei, jedoch auch einiges, was in nicht sehr schöner Erinnerung blieb. Jetzt, wo ich alt bin und vielleicht gar nicht mehr so lange zu leben habe - jetzt denke ich noch einmal zurück.

Ich denke zurück und sehe mein Leben vor mir. Zunächst muss ich feststellen, dass ich nicht all das erreicht habe, was ich erreichen wollte. Beruflich lief es weniger gut. Ich hatte zwar immer einen Job, nie aber etwas besonderes. Und so hatte ich auch nie wirklich viel Geld in meinem Leben, sondern kam meist nur irgendwie über die Runden, was sich durch vielerlei Punkte zog, wie ein roter Faden. Das weiße Haus, was ich mir immer gewünscht habe, dass konnte ich mir nicht leisten, auch ein wirklich toller Wagen war mir niemals möglich.

Wenn ich dann daran denke, dass ich berühmt sein wollte, dann muss ich auch hier feststellen, dass es nicht geklappt hat. Neben meinen Verwandten und meinen Freunden kennen nur wenige meinen Namen. Und wenn ich irgendwann sterben werde, wird mein Name in keinem Geschichtsbuch stehen, es werden keine Straßen nach mir benannt und ich denke, dass mein Name auch schnell vergessen sein wird.

Andererseits habe ich auch vieles von dem erreicht, was ich erreichen wollte. Ich habe eine wundervolle Frau gefunden, die mich liebt und die ich liebe. Wir haben zwei wunderbare Kinder, die mein größter Stolz sind. Und ich habe es geschafft, mich in meinem Leben kennen zu lernen.

Sich selbst kennenlernen? Das klingt vielleicht ein wenig komisch. Und doch ist es so. Ich habe mich kennen gelernt. Meine Stärken und Schwächen, meine Eigenarten im positiven wie im negativen. Ich weiß, wer ich bin und wie ich mich einschätzen kann. Und ich weiß, dass ich kein schlechter Mensch bin.

Vielleicht mögen manche nun sagen, dass das nichts Besonderes ist. Das doch viele Menschen keine schlechten Menschen sind. Aber ganz ehrlich: Mir ist das schon einiges wert.

Ich habe ein Leben geführt, bei dem ich einerseits auf mich achtete und darauf, dass ich auf meine Kosten komme, ich konnte aber auch durch meine Offenheit vielen Menschen begegnen und viele Menschen kennenlernen. Das finde ich schön, das hat mich immer fasziniert.

Vor allem dann, wenn es zu intensiveren Gesprächen kam und nicht nur zu irgendwelchen, belanglosen Gesprächen über das Wetter oder wie der Tag so war. Und im Laufe meines Lebens hatte ich das Glück, vielen Menschen begegnen zu können, die sich mir auch öffneten. Sicher, ich habe es ihnen auch leicht gemacht. Ich bin ja selbst ein sehr offener Mensch, der viel von sich preisgibt und allein dadurch schon ein gewisses Vertrauen entgegenbringt. Dennoch war es für mich immer etwas besonderes, zeigte es mir doch, dass der Mensch, dem ich begegnet bin, mir so viel Vertrauen schenkt, dass er mir, teils sehr persönliches erzählt.

Jetzt, zum Ende, glaube ich, dass diese Punkte die Besonderheit in meinem Leben sind. Meine Frau und die Kinder. Der Glaube daran, dass ich mich selbst kenne und die Menschen, die mich in irgendeiner Form in ihr Leben ließen.

Zwar bilde ich mir darauf nichts ein und glaube auch nicht daran, für immer als Gedanke in diesem Menschen weiter zu leben. Aber zumindest in einem kleinen Moment, in dem sie mit mir sprachen, da war ich wer.

Jetzt, zum Ende meines Lebens muss ich auch sagen, dass es nicht die Großen Dinge waren, die mein Leben zu etwas besonderen gemacht haben, sondern die vielen Kleinigkeiten in meinem Leben.

Es fällt mir schwer, das richtig in Worte zu fassen, aber ein Beispiel dazu, was mir doch immer ein Lächeln abringt, ist der Gedanke an meine Frau. So versuchte sie, zu besonderen Anlässen, besonders schön auszusehen. Sie schmiss sich in unterschiedlichste Kleider und Kostüme, in Hosen und Jacken. Schminkte sich und ging extra für diesen Anlass zum Friseur. Immer, wenn sie diese Prozedur durchzog, wurde ich am Ende mit der Frage konfrontiert: Und? Gefalle ich dir?

Natürlich hat sie mir gefallen.

Aber, wenn man ihren Kampf am Kleiderschrank als etwas Großes deutet - so war es eigentlich immer wieder eine Kleinigkeit, die für mich die Besonderheit war.

Eben, wenn ich sie morgens sah. Morgens, mit vom Schlaf zerzausten Haaren. Mit Fältchen, die ein geknickter Kissenbezug auf ihrem Gesicht hinterlassen hat. Mit viel Schlaf in ihren noch müden Augen. Sie so zu sehen, sie anzuschauen und auf ihr lächeln zu warten, sobald ich sie küsste: Das war etwas wirklich Besonderes.

Und ich finde, so zog es sich durch mein ganzes Leben. Man wartete, hoffte und kämpfte für den großen Moment - und ob man ihn erreicht hat oder nicht: Die kleinen Dinge, sie trafen mich meist stärker.

Jetzt, im hohen Alter steht irgendwann der Tod vor meiner Tür. Wieder so etwas "Großes".

Ich bin unsicher. Ich habe auch ein wenig Angst. Vor dem was kommen mag und davor, ob überhaupt etwas kommt. Andererseits gehört es auch zum Leben dazu. Was ist ein leben ohne Tod? Was ist die Sonne ohne Mond?

Ich glaube, ich sollte einfach schauen, was passiert. Sollte mein Weg weitergehen, so lange ich es noch kann. Ich sollte Ich selbst bleiben. Weiter mit offenen Augen durch die Welt gehen, Ungerechtigkeiten ansprechen, wo ich sie sehe und schauen, dass ich nicht selbst Ungerecht werde.

Soll ich mich jetzt noch ändern?

Ich denke nicht. Ich bin zufrieden. Ich bin glücklich.